Von Algen, Seezeremonien und dem Leben der Made Betty

Neulich war ich bei einer spannenden Veranstaltung des Architektursommers Hamburg. Im privaten Garten von Edith Sticker in Volksdorf führten Prof. Dr. Julia Lohmann und ihr Ehemann Gero Grundmann  ein Künstlergespräch mit dem Philosophen Andreas Kohlschmidt  über ihr Projekt Department of Seaweed. Die Performance von Julia Lohmann verwandelte das Volksdorfer Hühnerhaus aus dem Jahr 1939 in ein asiatisch inspiriertes Teehaus des 21. Jahrhunderts.

Die Algen – Superfood und nachhaltiges Material der Zukunft – waren Medium und Inhalt einer rituellen Zeremonie, der ich beiwohnen durfte.  Die Zeremonie, auf alten japanischen Traditionen basierend neu interpretiert – daher Seezeremonie –  eröffnete den Gästen eine sinnliche, innere Naturerfahrung, für die das alte Hühnerhaus das perfekte Ambiente bot.

Julia Lohmann ist seit einem Jahr Professorin für Design an der Aalto Universität in Helsinki. Sie untersucht und hinterfragt die ethischen und materiellen Wertvorstellungen, die unserer Beziehung zu Flora und Fauna zugrunde liegen. Im Gespräch erzählte sie, wie sie schon als Kind durch ihren Vater auf Dinge aufmerksam gemacht wurde, die andere weggeworfen haben oder als Strandgut angespült worden sind, aber in einem anderen Kontext zu einem neuen Dasein als Kunstobjekte gelangen konnten.

Gemeinsam mit ihrem Ehemann Gero Grundmann, ebenfalls international renommierter Designer, hat Julia Lohmann spannende Projekte durchgeführt. Das Thema ihrer Promotion, die sich mit der Frage nach Entstehung und Vergänglichkeit befasste, war Anlass für eine Performance mit lebenden Maden in einem unbewachten Raum der Tate-Modern-Galerie in London. In Tinte getauchte Maden krochen über Londoner Stadtpläne und beantworteten „Fragebögen“ über ihre persönlichen Befindlichkeiten und Wünsche. So wollte z.B. die Made Betty in Notting Hill leben und Flugbegleiterin werden.

»Wir gaben den Maden Namen und sahen, wie die Leute sie plötzlich als Individuen wahrnahmen und nicht als etwas Ekelerregendes«, sagt Grundmann. Als die Performance dann vorbei war, kamen die Zuschauer und machten sich sogar Sorgen um das weitere Schicksal der Maden: „Muss Betty jetzt sterben?“

Es ist also immer eine Frage des Blickwinkels und des Kontextes. In den Händen einer Designerin wird die Made zum Individuum Betty und der unappetitliche Schafsmagen zur dekorativen Lampe. Die Kultur prägt unsere Identität, unsere Werte und Beziehungen. Sie formt auch unser Umfeld und unsere Lebensweise. Durch ihre Arbeit sensibilisiert Julia Lohmann die Menschen, ihr Umfeld genauer zu betrachten und Dinge zu entdecken, die – weil so selbstverständlich geworden – wir gar nicht mehr wahrnehmen und damit bewusster mit der Natur und den Ressourcen umzugehen.

Marianne Sinemus-Ammermann