Finnlandbegeisterung in 599 klassischen Versen
„Fliehe, o Muse, dies Land!“ warnt der imaginäre Freund des Dichters gleich zu Anfang eines imaginären Dialogs in 599 klassischen Versen: er versteht nicht, wie der Verfasser sich auf dieses Land im Norden einlassen konnte. August Thieme – er arbeitet als Lehrer im damals (und heute) russischen Wiborg (fi. Viipuri, schw. Viborg, russ. Vyborg) – entkräftet in seinem 1808 als Schulschrift erschienenen Poem alle Vorurteile, die noch heute über Finnland kursieren; das gipfelt in den Versen:
„Du, der du südliche Auen geschaut, dich wollte ich führen
Hierher verbundenen Augs, dann plötzlich dir lösen die Binde
Und in welcherlei Land dich würdest du wähnen, wenn weithin
Ruhet die Flur im heiligen Schimmer der Mitternachtssonne…“ –
Aber Thieme schwärmt nicht nur, er liefert beste landes- und volkskundliche Beschreibungen, denn er hat das Land als Schulinspektor der deutschen Kreisschulen bereist. Aber wieso deutsche Schulen in diesem seit 1710/1743 russischen Teil Finnlands zu Zeiten Napoleons? Neben Zitaten facettenreicher Schilderungen Finnlands im Deutsch der Goethezeit bietet der Vortrag einen Blick auf eine Zeit, in der deutsche Kultur Finnlandpatriotismus inspirieren sollte.
Als Zar Peter der Große nämlich die Festung Wiborg im Jahre 1710 zum Schutz seiner neuen Hauptstadt St. Petersburg eroberte hatte, behandelte er die Stadt mit ihren vielen deutschsprachigen Kaufleuten und Handwerkern ähnlich zuvorkommend wie die deutsch geprägten Provinzen Estland und Livland. So war es auch naheliegend, dass Zar Alexander I. bei seiner Bildungsreform von 1802 Wiborg der deutschsprachigen Universität Dorpat (estn. Tartu) unterstellte. So gehörte das kleine Stück Finnland zu dem Kreis der deutsch geprägten Autonomien im Nordwesten des Russischen Reiches. Dies blieb aber Episode: 1809 eroberte Russland ganz Finnland, gewährte ihm Autonomie mit Schwedisch als Amtssprache und gliederte ihm die bis dahin eroberten Gebiete 1812 wieder an.
Der Originaldruck ist nur noch in drei oder vier Exemplaren erhalten. Deshalb hat die Aue-Stiftung Thiemes Gedicht zum 200jährigen Jubiläum der „Wiedervereinigung“ Finnlands in einer Faksimile-Ausgabe herausgegeben. Sie enthält auch Übersetzungen in dem originalen Versmaß in die drei anderen Sprachen des alten Wiborg (Finnisch, Russisch und Schwedisch) und Aufsätze zu dem Gedicht.
Hier zwei Beispiele mit den entsprechenden finnischen Übersetzungen von Teivas Oksala:
Hylkää, oi Runotar, tämä maa! Ei nuuhkia täällä
tuoksuja etelän voi. Vain meri ulvova on,
linnut kaulakkaat kujertaa surulaulua kilvan,
puhkuen Pohjoinen viirien hulmuta suo.
Kai sua kammottaa meri ryskyen iskevä laivaan,
Pohjolan jäätävä jää, yön pimeys Ereboon?
Pöllöjen huutoja kuuletkos, räminää rämesoilla,
metsää myrskyävää, noitien rumpujakin,
pauhua yhdeksin kehin kiertävän Tuonelan Vuoksen?
Päiväkin pilvestään katsoa voi alaspain,
kun kivin Deukalion tylyt ihmiset viskeli tänne,
kun läpi autiomaan vain sydän voi vaeltaa.
Maatilan reet suhahtaa ohi, teekupin höyry kun nousee.
Kun lasijääksi jo jähmettyy meri marmoriseksi,
kristallin läpi katsoa voi, kalat säikkyä saavat
luistimen alla, ja kurkistat sinä säikkyen sinne.
Tähdet näyttävät tien, revontulten purppuraloimu
hankiin vuodattaa rusovirtoja Jäämeren yltä.
Kummina tanssivat kuuset, ja hellänä sulhanen peittää
alle turkisten oman rakkaan morsiamensa.
Siltikin kulkusten läpi kuuluu soinnukas soitto.
2019 wurde der Band neu aufgelegt und enthält nun auch alle Teile in englischer Übersetzung. Er ist mit Abbildungen aus dem 19. Jh. ausgestattet und als attraktives Geschenk geeignet. Unter www.aue-stiftung.org und beim Vortrag kann man die Publikation einsehen (bisher nur die 1. Aufl. 2012) und auch bestellen.
Dr. Robert Schweitzer
Vortrag „Finnlandbegeisterung in 599 klassischen Versen“ im Rahmen der Ausstellung
„Nordwärts – Südwärts“ der Völkerkundesammlung Lübeck
am 10.12.2020, 18 Uhr
Eine Anmeldung ist erforderlich (0451 122 4137), Eintritt 8 € (4 / 2,50 +2 €)
Zitate und Bilder aus: August Thieme: Finnland (Veröffentlichungen der Aue-Stiftung, 2019)
Weitere Informationen
Publikationen der Aue-Stiftung
Lexikon der deutschen Kultur in Ostmitteleuropa